Vernissage: (Stadt-)Raum für Verwilderung

© Gabi Naumann

Am 10.6.2023 fand die Vernissage zur Ausstellung „(Stadt-)Raum für Verwilderung“ von Petra Lindenmeyer und Elsa Becke statt. Die beiden Fotokünstlerinnen hatten mich im Vorfeld gefragt, ob ich die Ausstellung textlich begleiten wollte – und ich wollte. Denn unsere Sichtweisen auf Natur und Wildnis ähneln sich, wir sind alle drei tief verbunden mit Mutter Erde, verwurzelt. Auf der Vernissage habe ich meinen kurzen Text „Wildwuchs“ vorgetragen – ihr könnt ihn in diesem Video (ab min 9:07) nachhören oder im Folgenden nachlesen.

Wildwuchs

Niemand sah sie kommen.
Niemand sah, wie im Verborgenen aus einem Samenkorn ein Keim spross, wie er die Erdkrume unter dem Pflaster durchstieß, um eine Fuge zu suchen, einen Riss, eine Spalte.
Niemand sah, wie der Keim Flügel bekam, kleine Schwingen, die ihm Kraft zufächelten, sich zu strecken, grün aufzubegehren gegen den Stein und das Grau.
Niemand sah, wie dieser Keim fand, wonach ihn verlangte, wie er nach oben strebte, weil er wachsen wollte, wachsen, weiter und weiter, mit schierer, zarter Gewalt, der Sonne entgegen, deren Lockungen er bis in das letzte Mitochondrium spürte.
Niemand sah, wie all die geheimen Mühen und Anstrengungen fruchteten und aus dem Nichts ein Etwas geboren wurde, wie endlich ans Licht kam, was ans Licht gehörte, und das Verstecken ein Ende hatte.
Niemand sah, wie die Pflanze zum ersten Mal dem Himmel entgegenblickte, den sie sich ertrotzt und erstritten hatte, und wild und frei und wunderbar war.
Dann kam jemand und sah. Und dachte: Unkraut.

© Barbara Imgrund

Teilen Sie diesen Artikel!